Seit sage und schreibe 35 Jahren steht Ingrid Westphal hinter dem Ladentisch ihres „Tante-Emma-Ladens“ nicht weit vom Olvenstedter Platz. Als 21-Jährige setzte sie 1975 zum ersten Mal den Fuß über die Türschwelle, um als Verkäuferin in Stadtfeld ihren Dienst anzutreten. Zu dieser Zeit noch vom staatlichen DDR-Unternehmen „HO Waren des täglichen Bedarfs“ geführt, wurde im Stadtteilladen nur Obst und Gemüse angeboten. „Das Angebot war natürlich nicht so üppig“, erinnert sich Ingrid Westphal. Ja, Kartoffeln und Weißkohl gab es damals schon ohne Probleme, alles andere aber saisonabhängig oder eben in Dosenform. Gemeinsam mit ihrer damaligen Chefin und deren Tochter schloss sie jeden Morgen um 8 Uhr die Türen auf, abends 18 Uhr wieder ab. Nebenbei lernte sie für ihren „Verkaufsstellenleiter“ und als ihre Chefin in den Ruhestand ging, entschloss sich die damals 27-Jährige, das Geschäft als Leiterin zu übernehmen.
Bis zur Wende: Denn dann klopfte eine große Lebensmittelkette an die Tür, um den Laden zu übernehmen: „Ja, es waren turbulente Zeiten. Die Kette gab diesen Standort später aber wieder auf“, sagt Ingrid Westphal.
Das Geschäft selbständig weiter zu führen, war fast eine logische Konsequenz für die heute 55-Jährige. Denn damals wie heute ist so ein Tante- Emma-Laden eben nicht nur ein Ort, an dem Stadtteilbewohner ihre Waren des täglichen Bedarfs kaufen können, sondern auch ein Ort für Gespräche: „Die Leute wollen eben auch mal was loswerden.“ Und das tun sie: Hausfrauen und Rentner, die meist in den Vormittagsstunden einkaufen gehen. Arbeitslose, die sich mit dem Nötigsten versorgen. Die junge Mutti, die sich ein Stück Kuchen für den Spielplatzbesuch kauft oder die Kinder, die nach der Schule noch schnell eine Stange Lakritze oder Gummibärchen mitnehmen: „Mittlerweile kommen sogar die Kinder von Eltern, die früher schon hier einkaufen waren.“
Ihr Mann Rainer Westphal, der jahrelang im Sket gearbeitet hat, stieg vor sieben Jahren in das Geschäft mit ein. Zu dieser Zeit eröffnete um die Ecke am Olvenstedter Platz auch ein großer Lebensmittelmarkt seine Türen. „Natürlich haben wir das bemerkt“, sagt der 57-Jährige: „Fast die Hälfte der Kunden ging mit einem Mal dort einkaufen.“ Mittlerweile habe sich die Zahl der Kunden eingepegelt. Sicherlich auch, weil hier im Viertel und insbesondere in der Immermannstraße eine Spur Lokalpatriotismus unter den Anwohnern eine Rolle spielt. „Ja, manchmal ist es schon hart“, sagt das Ehepaar: „Wir arbeiten von sechs bis sechs, Urlaub gibt es nur rund zwei Wochen im Jahr.“
Es ist ein Job für Allrounder, Alleskönner, denen es nicht nur um das große Geld geht. Für die Westphals steht dennoch fest: „Aufgeben werden wir nicht.“ Dagegen spricht allein schon, dass beiden ihr „Tante-Emma-Laden“ sehr ans Herz gewachsen ist.
Volksstimme vom 04. August 2010
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